Verändert der lange Aufenthalt in einer fremden Klimazone den Menschen. Und falls dem so sei, auf welche Weise? Wie ändert sich sein Umgang mit anderen, seine Skepsis gegenüber dem Leben und schließlich auch sein Charakter? Das sind Fragen, denen sich die beiden Figuren des Buches „Die Glut“ von Sandor Marai stellen.
- Der Autor
Der ungarische Autor Sandor Marai (1900 – 1989) hatte ein bewegtes Leben, das gut zum vergangenen Jahrhundert passt. Sein Geburtsort Kaschau / Kosice gehörte zu Österreich-Ungarn. Nach 1918 ging Marai nach Deutschland, bevor er über Paris und London 1928 nach Ungarn zurück kehrte. 1948 zog er nach Italien, von dort nach New York, dann wieder nach Italien. 1989 starb Marai in San Diego. Die Karte bildet die Vita des Autors ab.
- Das Buch
Marais bekanntester Roman stammt aus dem Jahr 1942 und erschien 1950 auf deutsch mit dem Titel „Die Kerzen brennen ab“. Die Neuübersetzung mit dem Titel „Die Glut“ wurde 1990 mit 200.000 verkauften Exemplaren ein Überraschungserfolg (Quelle wikipedia). Piper, 224 Seiten.
- Die Handlung
Wir sind im August 1940. Im Osten Ungarns (vielleicht auch in der Karpatenukraine – so genau kommt das nicht raus) lebt der alte General Henrik in einem Jagdschloss. Er ließ sich 1917 im Alter von 50 Jahren pensionieren. Seither ergab er sich der Einsamkeit (trotz mehrerer Diener). Sein Jugendfreund Konrad hat sich zu Besuch angekündigt. Konrad lebt heute in London, seit er aus „den Tropen“ zurück kam. Beide sind 75 Jahre alt. Beide gingen nach Wien auf die Militärschule, wo sie sich 1875 kennen lernten.
Inzwischen hatte Henrik auch Krisztina kennen gelernt und geheiratet, eine Französin, die sich in den Ehevertrag jährliche Reisen nach Paris reinschreiben ließ.
Eines Abends im Juli 1899 änderte sich beider Leben schlagartig. Konrad verschwand über Nacht und ohne Abschied zu nehmen. Über die Vorfälle, die zur Abreise führten, soll nun eine große Aussprache statt finden. Unerbittlich treibt das Gespräch, von Henrik gesteuert, auf die Stunden vor Konrads Verschwinden zu:
Er wirft Konrad die Flucht vor, Konrad wehrt sich halbherzig: Selbstverständlich hatte er das Recht, einfach zu gehen. Henrik bohrt nach: Jedes Motiv für die Flucht hätte er verstanden, Schulden, Krankheit, Fahnenflucht, jedoch nicht „dass Du Dich an mir versündigt hattest“. (S. 116).
- Eine Jagdszene in den Karpaten
Henrik schildert, wie er nach Konrads Verschwinden in dessen Zimmer ging, um einen Grund für das Verschwinden seines Freundes zu finden. Er fand keinen. Lag der Grund vielleicht in einer Begebenheit, die sich einige Stunden zuvor abspielte? Man war auf die Jagd gegangen, diesen „als Ritus erkennbare Rest einer uralten religiösen Handlung“. Während dieser Jagd spürt man „diese verbotene Lust, die Bereitschaft zum Töten, stärker zu sein als der andere“. (131). Das spürt der Leopard, die Schlange, der Falke. Und eben Konrad, zum ersten Mal in seinem Leben, als er auf Henrik anlegte und zielte.
Nun ist es raus, das Motiv, der Verrat. Man schenkt sich süßen Likör ein und probiert das Getränk mit der Zungenspitze.
Weiter erzählt Henrik von der Jagd, wie plötzlich ein kapitaler Hirsch vor ihnen auf der Lichtung stand, wie Konrad auf den Hirsch anlegte, wie der Zielpunkt auf den Hirsch nur Zentimeter neben dem auf Henrik liegt. Wie Sekunden vergehen. Wie der Hirsch wegspringt. Wie Konrad das Gewehr senkt. Auf dem Rückweg zur Jagdgesellschaft schweigt Konrad. Henrik begreift es als Einverständnis, dass Konrad ihn töten wollte.
Überhaupt zieht das große Schweigen ein: Krisztina liest ein Buch über die Tropen, voller Statistiken über Kautschukproduktion und Gesundheitsdaten. Konrad und Krisztina reden miteinander darüber, und sie schließen Henrik aus dem Gespräch aus. Stunden später ist Konrad verschwunden.
Krisztina flüstert noch „Feigling“, dann zieht sie sich zurück, und lebt von ihrem Mann getrennt bis zu ihrem Tod 8 Jahre später. Henrik wiederum kümmert sich nicht um sie, weil er ihr Geheimnis nicht ertragen kann. Er zieht in ein 20 Kilometer entferntes Jagdhaus. Er kommt sich vor, als sei er weiter weg geflohen, als Konrad in seine Tropen.
Am Ende des Gesprächs stellt Henrik seinem Freund zwei Fragen. Dass Konrad sie beantworten muss, ist Henriks Rache an ihm. Die erste, ob Krisztina von dem Mordversuch wußte. Konrad verweigert die Antwort. Die zweite, ob nicht alles, ob der Sinn des Lebens einzig in der Leidenschaft besteht, dass beide für Krisztina entflammt waren und bis heute sind. Konrad bejaht und reist wieder ab.
Zum Gespräch gab es Forelle, Steaks, flambiertes Schokoladeneis und Champagner.
- Verändern die „Tropen“ den Menschen?
Konrad verzichtete auf seinen militärischen Rang und ging „in die Tropen“. Konkret heißt das, nach Malaya, das damals eine englische Kolonie war und den Rest der Welt mit Kautschuk versorgte. Später nahm Konrad die britische Staatsbürgerschaft an. Konrad berichtet, wie „die Tropen“ Menschen verändern.
In Malaya lebte er auf Kosten der Kolonialgesellschaft, ein Leben in Hütten mit Blechdach, auf das Regen trommelt wie ein Maschinengewehr. Nach drei Jahren hat sich der Rhythmus des Lebens verändert. Das Herz schlägt anders, alles wird gleichgültig, Wutanfälle kommen, manche werden Mörder oder bringen sich um. Von den Tropen kann man nicht genesen. Zumindest nicht Belgier, Franzosen, Holländer. Nur die Engländer, die wehren sich. Doch auch deren Collegesitten werden weggenagt wie die Haut bei Lepra.
1917 ging Konrad ein zweites Mal in die Tropen, ein paar Reitstunden von Singapur entfernt. Er arbeitete mit 4000 chinesischen und malaiischen Kulis. Bis diese eines Tages die Arbeit niederlegten. Sie erfuhren im Urwald – ohne Medien – von der Revolution in Russland, am gleichen Tag wie die Menschen in London oder Singapur.
Konrad müht sich um eine klare Schilderung der „Tropen“. Und doch bleibt es seltsam teilnahmslos, denn er war im Herzen schon vor der Abreise ein Mörder.
- Fragen
Konnte ein Österreicher einfach so in die englische Armee gehen? Konnte er 1940 auf den Kontinent zurück, auf dem alles bald „mit Eisen und Feuer besprochen wird“. Kann er als Engländer nach Wien reisen und einfach nur „Veränderungen“ wahrnehmen? Warum interessiert sich Henrik nicht dafür, dass die Region, in der das Schloss liegt, – die Karpatenukraine – in jenen Jahren öfter zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn hin und her gewechselt wurde?
- Bemerkungen
Ich komme mir seltsam vor, denn die Fragen die sich an das Buch habe, rauben ihm den Zauber. Die Szenerie zweier alter Herren, die sich über ihr vergangenes und vergehendes Leben unterhalten, hat etwas Kammerspielhaftes. Der Dialog ist lange Zeit ein Monolog Henriks, der das Gespräch führt, Dinge unterstellt, Konrads Reaktion interpretiert und weiterspricht. Konrad spielt das Spiel bis auf wenige Ausnahmen mit. Die zentrale Szene rund um die nicht geschossene Kugel wird sehr lange aus verschiedenen Perspektiven geschildert und zieht am Leser wie in Zeitlupe vorüber, und doch immer wieder spannend.
Dazu kommen psychologisch interessante Fragen zwischen beiden auf: Das Verhältnis zwischen gesprochen Wort und Wahrheit, die Berechtigung, einem anderen ein Geheimnis zu entreißen, und die Fragen nach der Bedeutung der Leidenschaft.
Und übrigens, auch wenn die beiden lange über Krisztina sprechen und spekulieren: das Wort „Liebe“ taucht nicht auf.
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